Zur Ausstellungseröffnung unvorhergesehen, 23. Oktober 2009
Galerie Degenhartt, Berlin
Sehr geehrte Damen und Herren,
erst einmal bedanke ich mich herzlich bei dem Künstler Stephan Wolter und bei dem Galeristen Michael Degenhartt dafür, dass ich hier über die Arbeiten von Stephan Wolter sprechen darf.
Ich möchte heute weniger zu dem Sichtbaren etwas sagen, kaum etwas zur Technik der Arbeiten. Zum einen sehen Sie die Arbeiten ja vor sich, zum anderen ist der Künstler anwesend und gibt Ihnen später sicher gerne Auskunft zum konkreten Werkprozess. Im Grunde möchte ich eher von den Entscheidungen des Künstlers wie auch von meinen subjektiven Assoziationen sprechen – zum einen also etwas den Arbeitsweg des Künstlers umkreisen, zum anderen jenes skizzieren, was die Arbeiten von Stephan Wolter meiner Meinung nach zu etwas ganz Besonderem machen.
Als ich 2007 erstmalig - auch in diesen Räumlichkeiten - den Arbeiten von Stephan Wolter und somit dem Künstler selbst begegnete, war ich überrascht und angenehm berührt. Da gibt es jemanden, der abseits der am Kunstmarkt teilweise wankelmütigen Stimmungen seinen ganz besonderen Stil hat und diesem beharrlich treu bleibt. Der Titel der damaligen Ausstellung hieß „zwischen räumen“ und die Arbeiten zwangen auf anziehende, aber bestimmte Art und Weise den Betrachter zum Nachdenken und genauen Hinsehen. Die Werke von Stephan Wolter setzten sich bei mir fest.
In der heutigen Zeit, in der Bilder in unvorstellbarem Ausmaß zur Verfügung stehen und das Bild wesentliche Informationsquelle ist, wird der Betrachter ob dieser Bilderflut, was das Sehen betrifft, sehr schnell zum Analphabeten. Wir beginnen zu „übersehen“, nehmen Bilder nur noch als Raster ohne Detailgenauigkeit zur Kenntnis - sehen hat mit Wahrnehmung immer weniger zu tun. Umso wichtiger ist es, sich einzulassen auf die nachhaltigste Möglichkeit zur Entwicklung der Detailgenauigkeit, nämlich die Kunst.
Stephan Wolter beschäftigt sich hartnäckig mit all den dazugehörigen Themen: dem vorder- wie hintergründigen Sehen, dem schwierigen Suchen, der einsamen und mühseligen Arbeit, seine künstlerischen Ideen und Vorstellungen zu realisieren. Dieser bildnerische Entstehungsprozess birgt viele Gefahren: eine Idee zu haben ist das eine, sie umzusetzen etwas ganz anderes.
Künstlerische Arbeit ist laufender Veränderung unterworfen: das Unerwartete, das UNVORHERGESEHENE – nicht von ungefähr ist diese Ausstellung so betitelt – sorgt immer wieder für Überraschungen. Ob diese im wahrsten Sinne des Wortes zu fassen sind, neue Ansätze bieten, neue Wege aufzeigen, den Künstler führend und im konstant währenden Dialog seiner Gedanken mit den unterschiedlichen Materialien und seinen handwerklichen Fähigkeiten… zu einem auch den Betrachter verblüffenden Resultat bringen, stellt sich erst am Ende heraus. Stephan Wolters eigene Worte fassen diesen Prozess wie folgt zusammen: „Aufbrechen und Ankommen bleiben in einem schwebenden Zustand innerhalb der Zeit, wo die Hand anfängt bis zum Niederlegen des Werkzeugs“.
Stephan Wolters Kunst bietet dem Betrachter ein großes Potential:
das zeitaufwändige Umsetzen, auch durch das eingebrachte Material wie z.B. Plexiglas und Aluminium, und dessen jeweiliger Bearbeitung, ist sicht- und lesbar,ebenso die dadurch erzielten Effekte, z.B. das Vorder- und Hintergründige, das anscheinend Fassbare von Formen – plötzlich, unvorhergesehen nicht mehr fassbar, man sieht ihr die innewohnende Kraft an, nicht zuletzt dadurch wird der Betrachter aufgefordert weiter zu denken, über das durch die vom Künstler vorgegebenen äußeren Abmaße seiner Werke hinaus… automatisch einher geht damit das Sehen-Wollen und Sehen-Können von Unvorhergesehenem, bis dato Unbekanntem…
Willy Baumeister, ein fast vergessener Künstler und Theoretiker aus den 40/50er Jahren des letzten Jahrhunderts, sprach und schrieb von dem „Unbekannten in der Kunst“ – Sie gestatten mir einen kleinen Abstecher in die Kunstliteratur:
(…) Der Kern der Kunsttheorie von Baumeister postuliert das "Unbekannte" als Quintessenz der Kunst. Obwohl nirgends eine Definition des "Unbekannten" gegeben wird, sondern nur Umschreibungen seiner Eigenschaften, kommt die Definition "das Geheimnis der Schöpfungstat" am ehesten dem entgegen, was Baumeister zu verdeutlichen versucht. Die wesentlichste Rolle spielt das Unbekannte in der abstrakten Kunst. Wenn nämlich das Kunstwerk nicht von etwas anderem abgeleitet ist, interpretiert es die Urkraft des künstlerischen Schaffens.
Er meint, dass auch das Unbekannte nicht statisch und absolut sei, sondern beweglich und veränderlich. Es äußere sich in einer Vielzahl von Erscheinungsformen des Werdens und Vergehens. So wird das Leben zu einer ständigen Metamorphose.
Das Schaffen eines abstrakten Kunstwerkes bedeutet das Streben nach Einheit zwischen den Formkräften des Künstlers und den Formkräften des Materials. (…)
Wir können das „Machen“ der Bilder und Zeichnungen von Stephan Wolter durch genaues Hinschauen durchaus nachvollziehen, aber in der Wahrnehmung entfalten sie ein „Geheimnis“, eine jener nicht mehr mit Worten fassbaren Eigenschaften des Zusammenspiels von Farbe und Material. Dies gehört nun einmal zu jenem immer unvergesslichen Erlebnisbereich, den man zwar umschreiben kann, aber letztendlich nicht erklären – für die Erkenntnis des „Mehrwerts“ sollten wir uns beim Künstler bedanken, was ich hiermit tue.
Schauen Sie hin um zu sehen … und freuen Sie sich wie ich über die Kunst von Stephan Wolter.
Dr. Birgit Lippold
Text zur Eröffnung der Ausstellung zwischen räumen, Galerie Degenhartt 2007
Mit der Ausstellung „zwischen räumen“ zeigt Stephan Wolter kleinere Arbeiten auf Papier und großformatigere auf Leinwand oder Holz. Alle ziehen das Betrachten in eine Tätigkeit, die der Titel als räumen benennt, und in eine Befindlichkeit, die im zwischen verharrend gleichwohl sich selbst überlassen frei herumwandert.
Dieser erste Versuch, zu beschreiben, was beim Sehen zu erfahren ist, steckt so voller Widersprüchlichkeiten, dass ein genauerer Blick geboten ist. Dem stellen sich auf den großen Formaten und auch auf einigen der Papierarbeiten zuerst flächige Gebilde entgegen. Viele von ihnen versiegeln die darunter liegende Fläche hermetisch dicht, schneiden mit ihren scharf geschnittenen Rändern förmlich in die Bildfläche ein, wirken hart und sogar dominant. Indessen übernehmen sie auch eine Funktion, die in Landschaftsbildern aus früheren Epochen der Kunstgeschichte das „Repoussoir“ innehat. Das Repoussoir stellt sich meist am Bildrand im Vordergrund dem Auge entgegen. Dadurch drängt es Anderes zurück und schafft eine Sicht auf das tiefer oder weiter entfernt liegende, das nun seinerseits beginnt, einen Sog auf das Auge auszuüben. Das geschieht auch hier.In den Arbeiten von Stephan Wolter öffnet sich Schicht um Schicht eine kaum auslotbare, aber in einem schwebenden Zustand austarierte Tiefe. Dies geschieht weitgehend mit den Mitteln der Zeichnung. Sie erschließt zudem die Fläche über sich ausbreitende Felder unterschiedlich weiter Schraffuren und dichter Texturen.
Wie „arbeiten“ diese linearen Gebilde? Auf den ersten Blick haben wir es lediglich mit Senkrechten und Waagerechten zu tun. Sie schneiden sich, bilden (annähernd) rechte Winkel. Durch Wiederholung entstehen weit- bis feinmaschige Gitter. So einfach sich das gibt und sogar Beziehung aufnehmen kann zu den deckenden Farbflächen, so sehr bildet sich gerade damit Gegensätzliches heraus. Die zeichnerischen Linien nämlich lassen alle Glätte vermissen, die die kantigen Farbflächen (nicht die aquarellierten!) und die Bildränder auszeichnet. Während deren abweisende Schärfe die Unzugänglichkeit des Perfekten in Erinnerung rufen, bewahren die gezeichneten Linien die Bewegung der Hand. Da zeigt sich feinste Regung und kraftvoller Zugriff, der Druck der Hand wie deren leichte Führung, Zögern und rasche Entschiedenheit. Ein Feld tut sich auf, in dem es keine festen Zuordnungen gibt. Das von Gewicht zu Gewicht gleitende Auge verbindet und löst, gelenkt vielleicht von den Rhythmen zwischen den Räumen, denen es sich anvertraut.
Stephan Wolter arbeitet mit knappen Mitteln, lotet aber deren vielfältige Möglichkeiten mit bedachtsamer Sorgfalt aus. Seine Arbeiten entstehen oft in Serien, innerhalb derer er sich u. A. mit dem künstlerischen Handwerk auseinandersetzt. Die jüngsten Arbeiten z. B. sind auf Holz entstanden. Holz bietet der Zeichnung mehr Widerstand als die immer nachgiebige Leinwand. Holz ist überdies anders als Leinwand strukturiert und unterlegt der Zeichnung die ihm eigene Maserung – Erinnerung an ein Wachstum ganz anderer Art. Eine solche Erinnerung kann geradezu in die Hand gehen beim ersten Auftrag der Farbe, die mit der Hand in das Holz eingearbeitet wird. Besonders bei den Pastellzeichnungen auf Holz ist dieser Vorgang gut ablesbar. Mehrere Schichten bauen den Bildgrund auf. Seine verschiedenen Ebenen durchziehen die Linien, indem sie sich gegenseitig durchdringen. Sie lassen eine Räumlichkeit aufscheinen, die alles andere als fest bestimmbar ist. Was entsteht, erweist sich als vielschichtig dünnhäutig, sensibel bis zum Brüchigen, für einander durchlässig innerhalb eines unergründlichen Tiefenraums – unbegrenzt auf der begrenzten Fläche des Bildträgers und immer beweglich schwingend gegen die bestimmt konturierten Farbfelder auf der Oberfläche.
„Zeichnung spricht nur aus sich selbst“ – so schließt Stephan Wolter eine Reflexion über seine zeichnerische Arbeit. Dieser Satz gilt ganz besonders für einen Teil der hier gezeigten Papierarbeiten, in denen es um die Sprache der Linie geht, will sagen ihre Bewegung, ihre Kraft, ihre Interaktion mit und auf der Fläche. Freie Linien, die nichts erzählen, nichts mitteilen außer ihrer eigenen Dynamik, ihren eigenen Entwicklungen.
Auch diese Arbeiten sind in Serien entstanden, was praktisch heißt, dass aus einer zahlenmäßig viel umfangreicheren Reihe ein größerer Teil ausgesondert wurde zugunsten der kleineren Zahl von Arbeiten, die dem prüfenden Blick des Künstlers standgehalten haben. Immer wieder legt sich dabei nahe, nach den Kriterien zu fragen, besonders dann, wenn es sich um so frei auftretende Arbeiten handelt wie die hier gezeigten. Wenn sie schon nichts erzählen, bezeugen sie etwas? Einen Gedanken etwa? Einen festzulegenden Gedanken sicherlich nicht, wohl aber ein Denken, ein bildhaftes Denken, das sich auf der Suche nach Ordnung und Austausch entwickelt, das unablässig nach Spannung, Ausgleich und Rhythmus forscht und das sich dazu stets aufs Neue (er)finden muss.
Dr. Ulrike Rein
Juni 2007